2. Evidenzlevel der ENP-Diagnosen und Praxisleitlinien

Anfänglich dem Kontext der evidenzbasierten Medizin entstammend, dienten Evidenzlevel (auch: Evidenzgrade oder englisch „Level of Evidence“ – LoE) ursprünglich – und bis heute – der hierarchischen Kategorisierung der formalen und inhaltlichen Qualität klinischer Studien. Die Zuordnung einer klinischen Studie zu einem Evidenzlevel dient mit anderen Worten dazu, die Stärke und Aussagekraft der erzielten Ergebnisse zu beschreiben und damit die wissenschaftliche „Wertigkeit“ der Studie zu belegen. Wesentliche Einflussfaktoren auf diese Aussagekraft sind unter anderem die Art der durchgeführten Studie sowie die untersuchten Endpunkte, etwa die Lebensqualität oder die Überlebensrate. Im Verlauf der Zeit wurden sowohl weitere Klassifizierungsmodelle für die Zuweisung von klinischen Studien zu Evidenzleveln entwickelt, aber auch andere Anwendungsgebiete für die Ausweisung von Evidenzgraden. International besteht mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Skalierungen und Definitionen, sodass von einem allgemeingültigen Standard (wenn überhaupt) nur noch innerhalb eines klar definierten Anwendungsbereichs, nicht jedoch allgemeingültig, zu sprechen ist (Perleth & Raspe, 2007).

Mit Beginn der 2000er Jahre erreichte die Diskussion über Evidenzlevel und die entsprechenden Kriterien auch die Pflegewissenschaft. Der Fokus liegt anders als bei dem der Medizin entstammenden Konzept hier jedoch nicht auf einer einzelnen Studie bzw. einem einzelnen Baustein wie einem singulären Kennzeichen oder einer einzelnen Ursache. Vielmehr umfasst ein Evidenzlevel hier die Gesamtheit einer pflegeklassifikatorischen Komponente, etwa einer Pflegediagnose inklusive der sie bestimmenden Elemente (etwa Kennzeichen und Ursachen sowie Risikofaktoren). Auch repräsentiert der Evidenzlevel etwa einer Pflegediagnose anders als im ursprünglichen medizinischen Sinne nur indirekt die Aussagefähigkeit bzw. Wertigkeit, im Vordergrund steht dagegen die Bekanntgabe des Entwicklungsstatus einer Pflegediagnose bzw. einer Praxisleitlinie. Anders ausgedrückt soll die Ausweisung von Evidenzgraden ein größtmögliches Maß an Transparenz hinsichtlich des Entwicklungs-, Überarbeitungs- und Validierungsstatus der Elemente eines Pflegeklassifikationssystems gegenüber allen Anwender(inne)n und interessierten Personen etablieren. Je höher der Evidenzlevel z. B. einer Pflegediagnose, umso geringer die Zweifel an deren Qualität, Relevanz und wissenschaftlichen Untermauerung (Kunz et al., 2007).

Für die ENP-Pflegediagnosen und ENP-Praxisleitlinien werden seit 2014 sukzessive Evidenzlevel erarbeitet und ausgewiesen. Wichtiges Ziel bei der Entwicklung war neben der Schaffung Transparenz auch eine Vergleichbarkeit der Evidenzstufen mit denen anderer Pflegeklassifikationssysteme. Vor diesem Hintergrund orientieren sich die Evidenzlevel von ENP eng an den Einstufungskriterien der NANDA International (vgl. Herdman & Kamitsuru, 2018), wenngleich an dieser Einteilungssystematik auch kritische Aspekte diskutiert werden können12. Auf diesem Weg soll gewährleistet werden, dass die Aussagekraft sowie der Entwicklungsstand einzelner Pflegediagnosen verschiedener Klassifikationssysteme im Wesentlichen miteinander verglichen werden können.

Die Ausweisung von Evidenzleveln für ENP erfolgt auf zweierlei Ebenen. Zum einen für die pflegediagnostische Aussage, d. h. einer Pflegediagnose sowie deren Definition, Kennzeichen, Ursachen und Ressourcen, zum anderen auch für die Praxisleitlinie insgesamt, d. h. zzgl. der zur Pflegediagnose gehörenden Pflegeziele und Pflegeinterventionen. Wesentlicher Grund für diese differenzierende Darstellung ist die Tatsache, dass sich derzeit vielfach der diagnostische Teil einer ENP-Praxisleitlinie auf einem anderen (häufig weiter fortgeschrittenen) Entwicklungsstand befindet als die zugehörigen Ziele und Interventionen bzw. die ENP-Praxisleitlinie insgesamt. Um auch eine solche Konstellation für jede interessierte Person unmittelbar transparent darzustellen, werden jeweils zwei Evidenzgrade ausgewiesen.

Mit der Version 3.0 von ENP (Mai 2019) wurde der schrittweise Prozess der Ausweisung von Evidenzleveln zu allen Pflegediagnosen bzw. Praxisleitlinien abgeschlossen, sodass nun für den gesamten Katalog der jeweilige Entwicklungsstatus einsehbar ist, der laufend im Rahmen der Weiterentwicklungsarbeiten aktualisiert wird. Folgende Auflistung stellt die einzelnen Evidenzgrade von ENP detaillierter vor:

LoE – Ebene 1: Neue Praxisleitlinien im Entwicklungsstatus / induktiv entwickelte Pflegediagnosen und Praxisleitlinien

ENP-Praxisleitlinien werden in vielen Fällen induktiv entwickelt, was bedeutet, dass die Pflegepraktiker(innen), die mit ENP arbeiten, eine Lücke im Katalog identifizieren. Der Entwicklungsweg nimmt seinen Ursprung folglich häufig in der Identifizierung eines relevanten Phänomens in der Pflegepraxis und wird daraufhin umgesetzt. Das Ergebnis wird mit der Pflegepraxis konsentiert. Anschließend wird die Diagnose in den ENP-Katalog aufgenommen (LoE 1.4). Insgesamt weniger häufig wird die Neuentwicklung einer ENP-Praxisleitlinie durch Literaturauswertungen, gesundheitspolitische Entwicklungen oder weitere nicht aus der Pflegepraxis stammende Impulse angeregt. Ist dies der Fall, wird zunächst ein Entwicklungsvorschlag erarbeitet (vgl. LoE 1.1/1.2/1.3), der im Anschluss mit geeigneten Expert(inn)en aus der klinischen Praxis diskutiert und von diesen bewertet wird.

LoE 1.1 Nur Pflegediagnosentitel (Entwicklungsauftrag, keine Aufnahme in den ENP-Katalog)

Das Thema sowie die wesentlichen Konzeptbegriffe der ENP-Pflegediagnose sind eindeutig geklärt und werden durch Literatur gestützt. Die Syntax- und Strukturvorgaben sind geprüft. Ebenso sind potenzielle Überschneidungen zu anderen ENP-Praxisleitlinien im Wesentlichen untersucht und vermieden.

LoE 1.2 Pflegediagnosentitel sowie Definition, Kennzeichen, Ursachen und Ressourcen (Entwicklungsauftrag, keine Aufnahme in den ENP-Katalog)

Die ENP-Pflegediagnose ist eindeutig formuliert, die Definition stimmt inhaltlich mit dem Titel überein. Die Definition unterscheidet sich terminologisch von den Kernkonzepten des Diagnosetitels im Sinne einer Um- bzw. Beschreibung. Die Diagnose wie auch die Definition sowie die in dieser Entwicklungsphase erarbeiteten Kennzeichen, Ursachen und Ressourcen werden durch Literaturverweise gestützt.

LoE 1.3 Pflegediagnose und Definition, Kennzeichen, Ursachen und Ressourcen werden um Pflegeziele und Pflegeinterventionen zu einer Praxisleitlinie vervollständigt (Entwicklungsauftrag, keine Aufnahme in den ENP-Katalog)

Die pflegediagnostische Aussage wird um Pflegeziele und Pflegemaßnahmen ergänzt und durch Literaturverweise gestützt. Die resultierende ENP-Praxisleitlinie befindet sich in einem frühen Stadium und kann Endanwender(inne)n in Einzelfällen zu Evaluierungs- und Projektierungszwecken zur Verfügung gestellt und gemeinsam mit dem ENP-Entwicklerteam verbessert werden. Im offiziellen ENP-Katalog sowie in den Buchveröffentlichungen werden jedoch ausschließlich Diagnosen ausgewiesen, welche mindestens den Evidenzgrad 1.4 aufweisen.

LoE 1.4 Induktiv entwickelte Praxisleitlinie: Pflegediagnose und Definition, Kennzeichen, Ursachen, Ressourcen, Pflegeziele und Pflegeinterventionen werden aus der Pflegepraxis heraus entwickelt

Die Pflegediagnose, ihre Definition, Kennzeichen, Ursachen, Ressourcen sowie zugehörige Pflegeziele und Pflegemaßnahme wurden auf Grundlage empirischer Beobachtungen konkreter Versorgungssituationen aus der Pflegepraxis und einem anschließenden Prozess der Cluster- und Themenbildung sowie hiermit einhergehender, ständiger Vergleiche der zugehörigen, realen Pflegeprozessplanungen entwickelt. Die fachlich-inhaltliche Korrektheit sowie die Relevanz der auf diesem Weg entwickelten Praxisleitlinien wird durch internationale Fachliteratur bestätigt bzw. ergänzt. Es erfolgt die Aufnahme in den offiziellen ENP-Katalog.

LoE – Ebene 2: Durch internationale Literaturanalysen, die Pflegepraxis und/oder konsentierende Studien bestätigte Pflegediagnosen und Praxisleitlinien

LoE 2.1 Pflegediagnosentitel, Definition, Kennzeichen, Ursachen und Ressourcen (pflegediagnostische Aussage) bzw. Pflegediagnosentitel, Definition, Kennzeichen, Ursachen, Ressourcen und Pflegeziele und Maßnahmen (gesamte Praxisleitlinie) sind durch internationale Literatur bestätigt

Die Pflegediagnose, ihre Definition sowie Kennzeichen, Ursachen und Ressourcen im Sinne der pflegediagnostischen Aussage oder die gesamte ENP-Praxisleitlinie, d. h. die genannten Elemente sowie darüber hinaus die der Pflegediagnose zugeordneten Pflegemaßnahmen und Pflegeziele sind durch nationale und internationale Literaturanalysen belegt.

LoE 2.2 Ergänzende Begriffsanalyse zur Pflegediagnose

Zusätzlich zur Literaturfundierung von Diagnosentitel, Definition, Kennzeichen, Ursachen, Ressourcen, Pflegemaßnahmen und Pflegezielen wird zu den zentralen pflegediagnostischen Begriffen eine Konzeptanalyse mit ausführlicher Literaturbewertung durchgeführt. Die Konzeptanalyse unterstützt die Pflegediagnose und die Definition und umfasst Diskussion und Unterstützung der Kennzeichen.

LoE 2.3 Konsentierende Studien von existierenden Pflegediagnosen / Praxisleitlinien durch Experten

Ergänzend zur Literaturfundierung sämtlicher Elemente der Pflegediagnose und Praxisleitlinie werden konsentierende Studien mit Expert(inn)en des jeweiligen Fachgebiets durchgeführt. Die Studien beinhalten Expert(inn)enmeinungen, Delphi- oder Crossmapping-Studien mit anderen Pflegeklassifikationssystemen sowie ähnliche Forschungsdesigns mit diagnostischen Inhalten.

LoE – Ebene 3: Forschungsgestützte Pflegediagnosen und Praxisleitlinien (Validierung und Überprüfung)

LoE 3.1 a) Literatur-Synthese

Die Weiterentwicklung der Pflegediagnose bzw. Praxisleitlinie basiert auf einer systematischen, internationalen Literaturanalyse und -bewertung zur Pflegediagnose und Pflegemaßnahmen mit dokumentierter und nachweislicher Suchstrategie.

LoE 3.1 b) Literatur-Synthese und Expertenrating

Die Weiterentwicklung der Pflegediagnose bzw. Praxisleitlinie basiert auf einer systematischen Literaturanalyse und -bewertung zur Pflegediagnose und zu Pflegemaßnahmen mit dokumentierter und nachweislicher Suchstrategie sowie anschließender Bewertung durch anhand definierter Kriterien ausgewählter Fachexpert(inn)en mittels standardisierter Befragung, Online-Surveys oder ähnlicher Verfahren (sog. Expertenrating).

LoE 3.2 Klinische, jedoch nicht auf die Gesamtbevölkerung generalisierbare Studien von Pflegediagnosen und Praxisleitlinien

Die Studie bezieht sich entweder auf die Pflegediagnose sowie alle Kennzeichen und Ursachen, die in Bezug zur Diagnose stehen oder die Praxisleitlinie insgesamt (inkl. Pflegezielen und Pflegeinterventionen). Die Studien können qualitativer oder quantitativer Natur sein. Hierunter fallen auch Studien, welche die Übereinstimmungsvalidität (concurrent validity) im klinischen Kontext untersuchen. Der Stichprobenumfang ist begrenzt und kommt nicht zufällig (nicht-probabilistisch) zustande.

LoE 3.3 Gut gestaltete klinische Studien mit kleinen, nicht generalisierbaren Stichprobengrößen

Die Studie bezieht sich entweder auf die Pflegediagnose sowie alle Kennzeichen und Ursachen, die in Bezug zur Diagnose stehen oder die Praxisleitlinie insgesamt. Die Studien können qualitativer oder quantitativer Natur sein. Hierunter fallen auch Studien, welche die Übereinstimmungsvalidität (concurrent validity) im klinischen Kontext untersuchen. Es wird eine Zufallsstichprobe (probabilistische Stichprobe) genutzt, jedoch mit begrenztem, nicht für die Gesamtbevölkerung repräsentativem Stichprobenumfang.

LoE 3.4 Gut gestaltete klinische Studien mit Zufallsstichprobe von ausreichender Größe, um eine Generalisierbarkeit auf die Gesamtpopulation zuzulassen

Die Studie bezieht sich entweder auf die Pflegediagnose sowie alle Kennzeichen und Ursachen, die in Bezug zur Diagnose stehen, oder die Praxisleitlinie insgesamt. Die Studien können qualitativer oder quantitativer Natur sein. Hierunter fallen auch Studien, welche die Übereinstimmungsvalidität (concurrent validity) im klinischen Kontext untersuchen. Es wird eine Zufallsstichprobe (probabilistische Stichprobe) mit ausreichender Größe genutzt, um die Ergebnisse auf die Gesamtpopulation zu generalisieren.

Bezugnehmend auf die aktuelle Version 3.2 von ENP verteilen sich die Evidenzgrade wie folgt auf die 576 ENP-Pflegediagnosen bzw. ENP-Praxisleitlinien. Nicht abgebildet sind in Entwicklung befindliche Pflegediagnosen bzw. Praxisleitlinien, die noch kein offizieller Bestandteil von ENP sind (LoE 1.1 bis LoE 1.3).

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12 Die Kriterien zur Einstufung einer NANDA-I-Pflegediagnose zu einem Evidenzlevel können online unter http://www.nanda.org/nanda-i-resources/level-of-evidence-criteria/ eingesehen werden (Zugriff am 14.06.2019)

 

Abbildung 9: Verteilung der Evidenzgrade für ENP-Pflegediagnosen und ENP-Praxisleitlinien in Version 3.2.

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